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Archetypen und ihre Rolle in der Kunst

Manche Bilder erscheinen vor unserem inneren Auge, ohne dass wir sagen könnten, woher sie stammen. Sie treten in unser Bewusstsein wie aus dem Nebel einer fernen Erinnerung, vertraut und doch rätselhaft. Ein uraltes Gesicht, das uns anzublicken scheint, als hätte es schon viele Leben gesehen. Eine einsame Gestalt auf einem unbekannten Weg. Szenen, die an Mythen erinnern, Geschichten, die aus anderen Zeiten stammen und in uns weiterleben. Sie wirken wie Fragmente einer tieferen Wirklichkeit, älter als unser eigenes Leben – und gleichzeitig ganz im Hier und Jetzt verankert.

Solche Momente berühren etwas in uns, das sich nicht in Worte fassen lässt. Sie bringen eine leise Ahnung von etwas Grundlegendem, Zeitlosem mit sich. In solchen Bildern, geheimnisvoll und eindringlich, begegnen wir dem, was die Tiefenpsychologie als Archetypen bezeichnet.

Der Begriff wurde insbesondere durch Carl Gustav Jung geprägt. Archetypen sind kollektive Urbilder: Symbolhafte Grundmuster menschlicher Erfahrung, die tief im Unbewussten verankert sind. Sie sind nicht erlernt, sondern in uns angelegt: Strukturen, die sich in Mythen, Träumen, Märchen und eben auch in der Kunst immer wieder zeigen. Der weise Alte, die große Mutter, das innere Kind, der Schatten, die Heldin – das sind nur einige Beispiele. Sie wirken wie seelische Urformen und spiegeln universelle Themen wider, die alle Menschen auf die eine oder andere Weise berühren.


In meiner künstlerischen Arbeit tauchen solche Archetypen nicht gezielt auf. Sie schleichen sich ein. Manchmal zeigt sich eine Frau, die sowohl Kraft als auch Verletzlichkeit ausstrahlt. Ein Tier, das gleichzeitig Begleiter und Spiegel ist. Oder eine Landschaft, die eher einen Bezug zum inneren Zustand als eine reine äußere Szenerie darstellt. Häufig wird mir dann im Nachhinein bewusst: Das war nicht nur ein zufälliges Bild, sondern vielmehr eine archetypische Begegnung. Diese Begegnungen sind nicht immer eindeutig. Sie entziehen sich oft der direkten Sprache, genau wie Träume. Und doch sind sie da, wir spüren sie. Eine innere Resonanz, ein Wiedererkennen, das nicht rational erklärbar ist, aber tief empfunden wird.

Archetypen in der Kunst wirken wie Tore. Sie öffnen Räume zu etwas Größerem, das über das Persönliche hinausgeht. Sie schaffen Verbindung – zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Jetzt und Urzeit, zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Und genau darin liegt ihre Kraft: Sie erinnern uns an das Gemeinsame im Menschsein. An unsere Wurzeln. An Erfahrungen, die wir teilen, obwohl wir sie ganz individuell erleben.


Auch in der kunsttherapeutischen Arbeit begegnen uns Archetypen, oft in Form von Symbolen, Farben und Formen. Ein schützender Kreis, eine wachsende Pflanze, ein dunkler Wald. Diese Bilder helfen dabei, innere Themen greifbarer zu machen, ohne sie benennen zu müssen. Sie geben Halt, Orientierung oder stoßen einen inneren Prozess an.

Archetypische Bilder lassen sich nicht erzwingen. Sie tauchen auf, wenn wir am wenigsten damit rechnen – leise, eindringlich, wie aus einer anderen Schicht unseres Seins. Und wenn sie da sind, treffen sie häufig auf etwas in uns, das lange unberührt geblieben ist.Vielleicht ist dir so ein Bild schon begegnet: In einem Traum, in der Betrachtung eines Kunstwerks, in einem stillen Moment tiefer Intuition. Solche Bilder sprechen nicht in Begriffen, sondern in Empfindungen. Sie tragen etwas in sich, das sich nicht erklärt, sondern erinnert. Ein inneres Wissen, alt, klar und verbindend, oft stärker als Worte.


 

Weiterführende Literatur:

Jung, Carl Gustav: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. Walter Verlag, 1968.



 
 
 

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2 Kommentare

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Das ist so schön geschrieben... Ich finde das Thema Archetypen auch immer wieder spannend, besonders in der Kunst. Wenn einem bestimmte Symbole bewusst werden beim Betrachten eines Bildes oder beim eigenen Gestalten, entstehen richtige Gänsehautmomente und man spürt einfach wie bedeutungsvoll diese Offenbarung und Verbindung sein kann.

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Lieben Dank! Spannend, dass du es ebenfalls so erlebst - besser hätte ich diese Momente, wie du sie beschreibst, nicht auf den Punkt bringen können. 😊

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