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Das Unbewusste als schöpferische Kraft: Ein Blick in die Tiefe hinter dem Sichtbaren

Wie viel von dem, was wir tagtäglich denken, fühlen und tun, ist uns eigentlich wirklich bewusst?


Was geschieht in uns, wenn wir kreativ sind? Woher kommen plötzliche Eingebungen, bildhafte Visionen oder das tiefe Gefühl, dass ein Kunstwerk „von selbst“ entsteht? Um diese Fragen zu ergründen, lohnt es sich, einen Blick auf den Teil unseres Geistes zu werfen, der uns meist verborgen bleibt – das Unbewusste.


Im Alltag erleben wir uns vor allem in unserem bewussten Denken: Wir analysieren, planen, wägen ab. Doch dieser bewusste Anteil unserer Psyche ist weitaus kleiner, als wir oft glauben. Der Großteil unseres inneren Erlebens – darunter Emotionen, Erinnerungen, körperliche Empfindungen, Bilder und tiefere Muster – wirkt im Verborgenen. Laut Studien des Harvard-Professors Gerald Zaltman werden etwa 95 % unserer Entscheidungen unbewusst getroffen (vgl. Zaltman, 2003). Neurowissenschaftliche Forschungen des Berliner Hirnforschers John-Dylan Haynes zeigen zudem, dass unsere Gehirne schon mehrere Sekunden vor einer bewussten Entscheidung aktiv werden, ohne dass wir es merken (vgl. Soon et al., 2008). Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die Frage: Wie stark steuert uns das, was wir nicht greifen können?


Für mich als Künstlerin und Kunsttherapeutin ist das Unbewusste ein Ort der Tiefe, der Intuition, der Symbolik und der schöpferischen Energie. Es ist nicht nur der Ort der Verdrängung, wie Freud einst betonte, sondern – im Sinne von C.G. Jung – auch eine Quelle von Kreativität, Wandlung und innerem Wachstum. Jung sprach vom Unbewussten nicht nur als Rückblick in die Vergangenheit, sondern auch als zukunftsgerichtete, schöpferische Kraft: Als eine Bewegung zwischen Regression und Progression. Während die Regression uns mit unseren Wurzeln, inneren Konflikten und frühen Prägungen konfrontiert, kann die Progression neue Wege aufzeigen, visionäre Bilder entstehen lassen und das Ich zur Individuation führen – zur Entfaltung des eigenen inneren Potenzials (vgl. Jung, 1960).

Im kreativen Prozess tritt dieses Potenzial besonders deutlich hervor. Gedanken lösen sich, Bilder steigen auf, und manchmal scheint es, als würde etwas durch uns hindurchfließen. In solchen Momenten tritt das bewusste Ich in den Hintergrund, während sich eine tiefere, oft unerklärliche Dynamik entfaltet. Künstlerisches Schaffen wird damit zu einer Brücke zwischen Bewusstem und Unbewusstem – ein Dialog zwischen Licht und Schatten, Kontrolle und Hingabe, Form und Intuition.

Diese Prozesse faszinieren mich nicht nur persönlich, sondern auch wissenschaftlich. In meinem Masterstudium der Kunsttherapie durfte ich erleben, wie stark künstlerisches Arbeiten als Ausdruck unbewusster Prozesse verstanden werden kann – und wie heilsam es ist, diese sichtbar zu machen, sich damit auseinanderzusetzen und sich selbst darüber besser kennenzulernen. Farben, Formen und Symbole haben die Kraft, das Unsagbare auszudrücken. Sie geben inneren Anteilen eine Bühne, die im sprachlichen Alltag oft keinen direkten Raum finden.


Auch Träume entspringen dieser Tiefe: Manifestationen innerer Bewegungen, oft voller Rätsel und Metaphern. Auch sie gehören zu jenen Ausdrucksformen, in denen das Unbewusste zu uns spricht – reich, vieldeutig und voller Hinweise auf das, was in uns wirken will. Sie werden in einem späteren Beitrag ihren eigenen Raum bekommen.


Das Unbekannte, tief Verborgene – sowohl auf uns selbst als auch auf andere Menschen und Geschehnisse in der Welt bezogen – kann sehr diffus, zunächst verwirrend und unheimlich wirken. Dieses „Nicht-Wissen“, das wir oft fürchten, birgt in Wahrheit einen Schatz. Es erlaubt uns, neue Verknüpfungen zu entdecken, innere Muster zu erkennen, über das Gewohnte hinauszudenken.

Künstlerisches Arbeiten ist für mich eine der Möglichkeiten, damit intensiv in Kontakt zu treten. Es ist ein stilles Spüren nach innen, ein Experimentieren mit Formen, Farben, Symbolen – immer auch ein Dialog mit etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt, aber doch spricht. Ich möchte daher dazu ermutigen, das Unbewusste nicht nur als etwas Fernes und Unergründliches zu sehen, sondern als lebendigen, schöpferischen Raum. Einen Raum, der nicht nur persönliche, sondern auch kollektive Bilder voller Weisheit und ungeahnter Faszination bereithält – und der im kreativen Prozess seine ganze Tiefe entfalten darf.



Quellen:

  • Zaltman, G. (2003). How Customers Think: Essential Insights into the Mind of the Market. Harvard Business School Press. vgl. S. 45–47.

  • Soon, C. S., Brass, M., Heinze, H. J., & Haynes, J. D. (2008). Unconscious determinants of free decisions in the human brain. Nature Neuroscience, 11(5), 543–545. vgl. S. 544–545.

  • Jung, C. G. (1960). Psychologische Typen. In: Gesammelte Werke, Bd. 6. Olten: Walter Verlag. vgl. S. 126–130.

 
 
 

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